Über Begierde und Enthaltsamkeit


Das Ideal der Enthaltsamkeit ist in diesem Lande (Amerika) so verzerrt dargestellt worden, dass fast jeder sich etwas Negatives darunter vorstellt – ein „du sollst nicht“. Und die Kirche mahnt: „Seid nicht unkeusch, es ist eine Sünde.“ Für die große Masse, die diesen vielen „du sollst nicht“ instinktiv mit Argwohn begegnet, ist die Idee der Enthaltsamkeit zu etwas Reizlosem, mit Unterdrückung, Trübsinn und Feigheit verbundenem geworden, während der Gedanke der Nicht-Enthaltsamkeit immer anziehender wird und mit Freiheit, Spaß und Mut verknüpft ist. Dieses schreckliche, zerstörende Missverständnis kann, wenn es nicht richtig gestellt wird, unter Umständen das Leben einer ganzen Nation vergiften. Wenn man den jungen Menschen den wesentlichen Zusammenhang zwischen Enthaltsamkeit und spirituellem Leben nicht klarmachen kann, werden sie ihre Kräfte allmählich vergeuden und die Möglichkeiten des spirituellen Wachstums und damit alle wirklich schöpferische Kraft, alle Erkenntnisfähigkeit verlieren.


Enthaltsamkeit ist keine Unterdrückung! Sie speichert Kraft und verwendet sie für bessere Zwecke. Sie ist nicht das Ziel an sich, sondern ein notwendiges Mittel, um das Denken von den beunruhigenden Leidenschaften zu befreien und das Bewusstsein auf Gott zu richten. Beherrschte sexuelle Energie wird zu spiritueller Energie. Wer enthaltsam ist, wird leicht und schnell spirituell wachsen.Vedanta and the West

Prabhavananda

Die Weisen haben alle Begierden auf zwei durchtriebene Leidenschaften zurückgeführt: Sex und Besitzenwollen. Diese beiden dominieren den Geist auf vielfache Weise und sind die letztendliche Grundlage der Erscheinungswelt in all ihren groben und feinen Aspekten. Vernichte sie und die Welt wird verschwinden. Und von diesen ist wiederum die Vorstellung des Geschlechts tiefer und grundlegender. Call to the Eternal III, Advaita Ashrama, Kalkutta

Ashokananda

Dieser Körper ist eine übel riechende Sammlung von Knochen, Haut, Sehnen, Mark, Fleisch, Same, Blut, Schleim, Tränen, Eiter, Kot, Urin und Galle. Was nützen einem da die sogenannten Freuden des Lebens? I 3

Maitrāyanī-Upanischade

Tatsache ist: nur jene können religiös sein, die diese Dinge hinter sich haben. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen, und bevor er nicht die Welt bis zur Neige ausgekostet hat, kann sich ihm die höhere Welt nicht eröffnen. X Jnana-Yoga: Der Pfad der Erkenntnis, Phänomen Verlag, Hamburg
Vivekananda




Das Universum existiert zum Zweck der Erfahrung und der Befreiung. Yoga Sutra II 18
Patanjali

Männer bewegen sich auf die Frauen zu, Frauen bewegen sich auf die Männer zu. Sehen wir das andere Geschlecht, entfacht sich in uns sofort das Begehren, wogegen sich unser Gemüt beim Anblick des eigenen Geschlechts ruhig verhält. Dies mutet seltsam an, da doch beiden Haare, Haut, Rundungen, Ausstrahlung, usw. zu eigen sind. Und was wollen wir? Es ist das Junge und Schöne, das uns anzieht; beim Anblick desselben Menschen, nur 50 Jahre älter, würde diese Anziehung wohl meist in Ekel umschlagen. Auch können Kinder unterschiedlichen Geschlechts im Bett liegen, ohne dass es für sie etwas Besonderes bedeutet…
Diese Wandelbarkeit der sexuellen Anziehung lässt keinen Schluss auf eine objektive Wirklichkeit zu. Sie ist vielmehr, obwohl sie bei der Mehrheit der Menschen auftritt, eine subjektive Verzerrung der Sicht. Sie ist an bestimmte Bedingungen geknüpft, erschöpft sich selbst und führt - in Anbetracht des höchsten religiösen Ideals - lediglich zur untersten Einheitserfahrung.
Da man die Begierde als stärkste Bindung an die Welt erkannt hat, bediente man sich verschiedener Gegenvorstellungen, um diese Verzerrung auszugleichen, sie zurückzuhalten und so diese Kraft auf einer höheren Ebene nutzbar zu machen.

Im Christentum wurde die Begierde als eine teuflische Verführung dargestellt, die zu höchster Wachsamkeit animiert. Die oben zitierte Maitrāyanī-Upanischade weist auf allerlei Bestandteile hin, aus denen zweifellos auch der begehrenswerteste Körper zusammengesetzt ist. Auch bei Buddha findet man die Betrachtung einer jungen schönen Frau, die jedoch im Alter daliegt, „schwerkrank, mit Kot und Harn beschmutzt“. (Es muss nicht erwähnt werden, dass jede Form von Körper- oder Frauenfeindlichkeit eine entartete Erstarrung dieser Maßnahmen sind.)

Das letzte Zitat von Vivekananda muss unbedingt miteinbezogen werden, denn Keuschheit kann sich niemand zwanghaft auferlegen. Zweifellos ist Entsagung ein wichtiger Punkt auf dem spirituellen Weg, doch darf es nicht passieren, dass sie in einem fixen Selbstzweck, in einer prüden und oftmals furchtsamen Sittlichkeit erstarrt oder gar in Heuchelei ausartet. Der Aspirant muss dafür vorbereitet sein, sie sollte für ihn etwas Natürliches haben. Für die meisten von uns ist wohl eine Erfahrung der Sexualität vonnöten, bevor sie aufgegeben werden kann. Entscheidend hierbei ist, dass unsere Erfahrung zu Erkenntnis führt. Das versteht sich nicht von selbst, weswegen Unterscheidungsvermögen zwischen spirituell und materiell, Dauerhaftem und Flüchtigem so wichtig ist.

Wenn es Grundsätze für diese Erfahrung geben soll, wären folgende denkbar: (1) Ein gut entwickeltes Körperbewusstsein. (2) Eigenverantwortlichkeit. (3) Rechtschaffenheit. (4) Die Bewahrung der Selbstkontrolle und damit keine exzessive Ausübung(!).

Aufgrund gewisser negativer Auswirkungen von sexueller Freizügigkeit findet diese Erfahrung traditionell ausschließlich in der Ehe statt, wobei den sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Pflichten eine klärende Wirkung zugeschrieben wird. Nach ein bis zwei Kindern wird beiden Partnern ebenfalls eine enthaltsame Lebensweise angeraten, um sich ganz ihrer Innerlichkeit widmen zu können.

Die Überbetonung der Sexualität in der Moderne ist wohl weniger Ausdruck einer besonders starken Begierde, als vielmehr die Folge eines Mangels an einem klaren höheren Ideal und einer tiefgründigeren Erfahrung von Glück.

(Nähere Ausführungen über die Notwendigkeit und den Zeitpunkt vollständiger Entsagung können den drei Aufsätzen Swami Ashokanandas eine Ebene höher entnommen werden.)

Sicher gibt es viele Lehrer, die sagen werden: „Ja, wir stimmen dem zu, eine innere Zügelung der Leidenschaften ist gewiss notwendig. Unsere jungen Leute müssen Selbstbeherrschung üben.“ Sehr wenige dieser Lehrer aber können die Frage beantworten, warum Selbstbeherrschung notwendig ist. Daher stellen junge Leute heute diese Frage und beginnen zu argwöhnen, dass die Lehrer nur deshalb gegen das Vergnügen sind, weil sie selbst zu alt sind, um daran teilzuhaben. „Was kommt es darauf an, was wir tun“, fragen die Jungen, „solange wir niemanden verletzen?“ Sie sind in diesem Punkt ganz anständig und aufrichtig.
Es ist zwecklos, ihnen vorzuhalten, dass ihr Vergnügen böse oder dass es ein Unrecht sei, glücklich zu sein, denn sie werden euch niemals glauben, ihr Instinkt sagt ihnen, dass ihr lügt. Sie werden euch verachten, wenn ihr von Sünde sprecht.

Wenn ihr aber aufhört, so zu sprechen und statt dessen beginnt, ihnen zu sagen, dass Gott in jedem von ihnen wohnt, wenn ihr sie auf das Ideal der Gottesverwirklichung hinweist und ihnen zeigt, dass der Kampf um Selbstdisziplin zwar schwer aber aufregend ist, wie das Training für die Athleten; wenn ihr ihnen klarmacht, dass sie, indem sie sich auf diese Weise verausgaben, sich um die größte Freude im Leben bringen, eine Freude, die weit größer ist als all ihre weltlichen Vergnügen - dann werdet ihr eine Sprache sprechen, die sie verstehen. Sie mögen vielleicht skeptisch sein, aber einige von ihnen werden doch das spirituelle Leben an sich selber erproben wollen. Vedanta and the West

Prabhavananda